Viele Kinder und Jugendliche, die nach Europa fliehen, haben keine gültigen Identitäts- oder Passdokumente, da diese vor oder während der Flucht verloren gingen oder einbehalten wurden. Zudem verfügt in einigen Regionen der Welt eine beträchtliche Anzahl von Personen gar nicht erst über Geburtsurkunden. Um den Schutz Minderjähriger sicherzustellen, müssen die Jugendämter das Alter in solchen Fällen daher in einem speziellen Verfahren schätzen.
Meldungen
"Im Wartemodus": Zur aktuellen Situation junger geflüchteter Menschen in Deutschland
15.02.2024

Im aktuellen Fluter haben wir über die Situation junger geflüchteter Menschen gesprochen. Es geht vor allem um die monatelangen Wartezeiten, in denen die Kinder und Jugendlichen auf ihre Erstgespräche warten. Ohne Schulplatz, ohne Vormund und ohne Anbindung.

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EU einigt sich auf GEAS Reform
20.12.2023

EU-Parlament und Mitgliedstaaten haben sich auf auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geeinigt. Die Einigung bedeutet die massivste Entrechtung von Schutzsuchenden auf europäischer Ebene die es je gab. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. stellt sich entschieden gegen die Reform und ist entsetzt, dass die Bundesregierung diese drastischen Menschen- und Kinderrechtsverletzungen mitträgt.

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Lobbypapier zu Rechtsverletzungen bei unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen
21.11.2023
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Bundesweite BumF-Onlineumfrage geht am 09.11. an den Start.
30.10.2023
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Ausnahme der unbegleiten minderjährigen Geflüchteten im Grenzverfahren? Kein Grund zur Entspannung!
20.06.2023
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Hintergrund

Die Ermittlung, ob jemand minderjährig ist, gehört in der Praxis zu den größten Herausforderungen für die beteiligten Fachkräfte und zu den gleichzeitig folgenreichsten Entscheidungen für die Betroffenen.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben oft keine Dokumente, um ihr Alter nachzuweisen. Sie haben zum Teil nie einen eigenen Pass besessen, konnten diesen bei einer abrupten Flucht nicht mitnehmen; oder Ausweispapiere wurden von Schleppern einbehalten. Die erforderlichen Dokumente im Nachhinein aus den Heimatländern zu besorgen, ist in der Regel schwierig und oftmals sogar unmöglich. Im Ergebnis haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge deshalb selten die Möglichkeit, ihr Alter nachzuweisen.

Kann eine Person ihr Alter aber nicht dokumentieren, lässt sich das genaue Alter auch nicht “feststellen“. Es handelt sich deshalb bei der Ermittlung des Alters bzw. der Frage, ob jemand minderjährig ist, immer – auch in medizinischen Verfahren – um eine reine Schätzung. Fehler können weitreichende Folgen für die jungen Menschen haben, denn die Schätzung entscheidet darüber, ob Zugang zu kindeswohlgerechter Unterbringung, Unterstützung, Bildung, rechtlicher Vertretung und umfänglicher Gesundheitsversorgung besteht. Bei Zweifeln muss daher von einer Minderjährigkeit ausgegangen werden (UNHCR 1997, 5.11 c; VGH Bayern 12 CE 14.1833, VGH München 12 C 14.1865)

Alterseinschätzung nach § 42 f SGB VIII

Wird eine unbegleitete Einreise eines Minderjährigen in Deutschland festgestellt, muss das Jugendamt am Ort des tatsächlichen Aufenthaltes die vorläufige Inobhutnahme verfügen (§ 42a, 88a Abs. 1 SGB VIII). Das Landesrecht kann dabei abweichende örtliche Zuständigkeiten vorsehen. Zweifel an der Minderjährigkeit müssen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme durch das Jugendamt im „behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung“ nach § 42f SGB VIII ausgeräumt werden. Dieses sichert das Primat der Jugendhilfe ab und umfasst dabei die Zuständigkeit für Identifizierung, Erstversorgung und Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger. Grenz- oder Ausländerbehörden, die unbegleitete Minderjährige oder mutmaßlich unbegleitete Minderjährige aufgreifen oder die eine entsprechende Meldung erhalten, müssen die jungen Menschen daher umgehend an das örtliche Jugendamt weiterleiten. Dieses verfügt sodann die vorläufige Inobhutnahme und ermittelt das Alter (§ 42f SGB VIII).

Die jungen Menschen haben sowohl während der vorläufigen Inobhutnahme als auch im Verfahren zur Alterseinschätzung das Recht, an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt zu werden. Dies impliziert die Aufklärung der jungen Menschen über vorhandene Rechte (§ 8 SGB VIII) in verständlicher Sprache sowie mit Hilfe von Sprachmittlung und Dolmetschenden. Es besteht Anspruch auf die Benachrichtigung einer Vertrauensperson. Die jungen Menschen  und ihre rechtliche Vertretung haben außerdem das Recht, in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zum Zwecke der Alterseinschätzung zu beantragen.

Verbessern wir gemeinsam die Situation von jungen Geflüchteten!

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Kriterien der Alterseinschätzung nach § 42f SGB VIII

§ 42f SGB VIII sieht für die konkrete Prüfung des Alters eine bestimmte Rangfolge vor:

 

Ausweispapiere und Primat der Selbstauskunft

Zunächst ist die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen (§ 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB VIII). Im Kontext Flucht liegen Identitätspapiere oft nicht in der Form hiesiger Standards vor, daher betrifft die Norm nicht nur Ausweispapiere im herkömmlichen Sinne. Die eingereichten Unterlagen müssen allerdings eine hinreichende Gewissheit für die sachliche Richtigkeit der enthaltenen Angaben, insbesondere bzgl. des Geburtsdatums, aufweisen. Dokumenten wie der „BüMA“ oder aber in anderen EU Staaten durch Selbstauskunft oder Schätzung der jeweiligen Behörden sowie durch Datenbanken wie EURODAC entstandenen Dokumenten kommt ein solcher Beweiswert hingegen nicht zu. Ohnehin ist das Jugendamt an Angaben anderer in- und ausländischer Behörden nicht gebunden und darf diese auch nicht ungeprüft übernehmen.

Der fehlende Beweiswert existierender Ausweispapiere darf weder zum Nachteil für die betroffene Person werden noch zur Bedingung der vorläufigen Aufnahme führen.

Vielmehr erlangt die Selbstauskunft in dem Kontext eine zentrale Bedeutung (Primat der Selbstauskunft); sie darf nur in begründeten Ausnahmefällen angezweifelt werden. Ein widersprüchlicher Vortrag allein reicht per se nicht aus, um Zweifel an der Aussage bzw. der Minderjährigkeit zu begründen.

 

Qualifizierte Inaugenscheinnahme

Wenn auch die Selbstauskunft bestehende Zweifel nicht beseitigen kann, wird die sogenannte qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt. Hierzu verweist die gesetzliche Begründung auf die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter zu unbegleiteten Minderjährigen.

Maßgeblich für die qualifizierte Inaugenscheinnahme ist die Würdigung des Gesamteindrucks. Berücksichtigung findet neben dem äußeren Erscheinungsbild auch die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sowie weitere Auskünfte und relevante Informationen. Die Einholung zusätzlicher Informationen und Auskünfte muss unter Berücksichtigung des Sozialdatenschutzes erfolgen; benötigt werden entweder die Einwilligung des Betroffenen oder eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage nach Art. 6 Abs. 1 lit a DSGVO, Art. 6 Abs. 1 und 3 DSGVO iVm §§ 61 ff SGB VIII.

Im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme führen mindestens zwei besonders geschulte pädagogische Fachkräfte (sog. 4-Augen-Prinzip) mit Hilfe von Sprachmittlung/Dolmetschenden und z.T. psychologischer Unterstützung ein ausführliches Gespräch, in dem der Entwicklungsstand der betroffenen Person mithilfe von Fragen z.B. nach der Familie, dem bisherigen Schulbesuch und dem Fluchtweg sowie weiteren Biografiedaten eingeschätzt wird.  Äußert sich der junge Mensch widersprüchlich oder entstehen während des Gesprächs bei den Fachkräften altersbezügliche Bedenken, so ist die befragte Person im Gespräch mit diesen zu konfrontieren. Widersprüche rechtfertigen noch nicht die Schlussfolgerung einer falschen Altersangabe. Vielmehr kommt es hier auch darauf an, wie der junge Mensch auf entsprechende Vorhalte reagiert. So können auch ganz offensichtliche Widersprüche und ein kindlicher Umgang mit diesen gerade auch auf „fehlende Reife“ schließen lassen.

Die Fachkräfte entscheiden in diesem Kontext über die Frage der Minderjährigkeit oder offensichtlichen Volljährigkeit, mithin also nicht über ein konkretes Alter/Geburtsdatum. Das in diesem Rahmen gefundene Ergebnis sowie die vorgenommene Gesamtwürdigung müssen in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise dokumentiert und in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein.

Maßstab zur Festsetzung des Alters ist das Kindeswohl bzw. das Wohl der ausländischen Person – das heißt die Festsetzung muss unter Achtung ihrer Menschenwürde und ihrer körperlichen Integrität erfolgen. Die Altersfeststellung hat auf der Grundlage von Standards zu erfolgen, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in ihren ‚Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtigen‘ auf ihrer 116. Arbeitstagung beschlossen hat (Mai 2014).

Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme würdigt den Gesamteindruck, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Daneben kann zu einer qualifizierten Inaugenscheinnahme im Sinne der Vorschrift auch gehören, Auskünfte jeder Art einzuholen, Beteiligte anzuhören, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einzuholen sowie Dokumente, Urkunden und Akten beizuziehen.  Die ausländische Person ist in das Verfahren einzubeziehen. Sie ist vom Jugendamt über die Vornahme der Altersfeststellung, die Methode der Altersfeststellung sowie über die möglichen Folgen der Altersfeststellung und die Folgen einer Verweigerung der Mitwirkung bei der Sachverhaltsermittlung umfassend zu informieren und über ihre Rechte aufzuklären. Es ist sicherzustellen, dass diese Informationen der ausländischen Person in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden. Zudem ist der ausländischen Person die Möglichkeit zu geben, eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen.

(BT-Drucks. 18/6392)

 

Medizinische Untersuchung zu Zweck der Alterseinschätzung

Besteht nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Minderjährigkeit, ändern auch Restzweifel an der Selbstauskunft nichts daran, dass dann von Minderjährigkeit ausgegangen werden kann.

Können bestehende Zweifel hingegen weder in die eine Richtung noch in die andere ausgeräumt werden, so hat das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zum Zweck der Alterseinschätzung zu veranlassen.

Voraussetzung einer ordnungsgemäß eingeleiteten medizinischen Untersuchung zum Zweck der Alterseinschätzung ist eine umfassende Aufklärung des jungen Menschen und seiner gesetzlichen Vertretung über die konkreten Untersuchungsmethoden sowie Folgen der Alterseinschätzung (§ 42f Abs. 2 SGB VIII). Denn nur wenn der junge Mensch und seine Vertretung vor der medizinischen Untersuchung umfassend aufgeklärt wurden, kann eine wirksame Einwilligung erfolgen, die ebenfalls Voraussetzung der medizinischen Untersuchungen ist (§ 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Dies ist nachvollziehbar zu dokumentieren, da bei einem gerichtlichen Verfahren aufgrund fehlender Aufklärung das Jugendamt die Darlegungs- und Beweislast trägt. Die Verletzung der Aufklärungspflicht durch das Jugendamt, die neben derjenigen des jeweiligen Arztes oder der Ärztin besteht, hat die Nichtverwertbarkeit eines so entstandenen Gutachtens zur Folge.

Wird eine ärztliche Untersuchung veranlasst, so ist sie mit den schonendsten und soweit möglich zuverlässigsten Methoden von qualifizierten medizinischen Fachkräften durchzuführen. Dies schließt beispielsweise Genitaluntersuchungen aus.

Auch im Rahmen der medizinischen Alterseinschätzung handelt es sich nur um eine Schätzung, da das Alter einer Person aktuell nicht eindeutig und verlässlich ermittelt werden kann. „Festgestellt“ werden kann bei Fehlen von Identitätspapieren daher immer nur ein Altersbereich, innerhalb dessen die Festsetzung eines fiktiven Alters erfolgt. Im bekannten Geburtsjahr ist sodann immer vom spätesten Geburtstag, also dem 31.12. auszugehen (§ 12 VwVfG). Fiktive Geburtsdaten datiert auf den 1.1. widersprechen dem Minderjährigenschutz und sind daher zu korrigieren (BVerwG 31.7.1984 – 9 C 156/83).

Was tun bei falscher Alterseinschätzung?

Eine falsche Alterseinschätzung kann durch das Jugendamt oder auch gerichtlich korrigiert werden. Bei einer Schätzung auf über 18 Jahre kann innerhalb eines Monats Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme/Jugendhilfe beim Verwaltungsgericht eingereicht werden.

Alterseinschätzungen anderer Staaten oder anderer Kommunen innerhalb von Deutschland oder gar anderer Behörden, wie Ausländerbehörde oder Polizei, sind für das örtlich zuständige Jugendamt nicht bindend (VGH Bayern 12 CE 14.1833, OVG Berlin-Brandenburg 6 S 51.11; DIJuF-Rechtsgutachten DRG-1047). Das örtlich zuständige Jugendamt hat in eigener Zuständigkeit die Voraussetzungen der (vorläufigen/regulären) Inobhutnahme zu ermitteln. Dabei können Auskünfte anderer Behörden, Kommunen oder Staaten zur eigenen Ermittlung/Einschätzung herangezogen, jedoch nicht einfach ungeprüft übernommen werden.

 

Zum FAQ “Alterseinschätzung – Ist ein anderorts festgestelltes Alter bindend?”

Welches Geburtsdatum wird festgelegt?

Das Jugendamt hat lediglich über Minder- oder Volljährigkeit im Rahmen der eigenen Zuständigkeit zu entscheiden. Obwohl in der Praxis die Festlegung eines konkreten (fiktiven) Geburtsdatums erforderlich ist, gibt es Rechtsprechung, die dies als rechtswidrig einstuft – handelt es sich bei den Daten doch um offenkundig unrichtige Angaben. (VG Freiburg 2 K 2075/02)

Wird bei Unkenntnis des genauen Geburtsdatums dennoch ein fiktives Geburtsdatum festgesetzt, so muss vor dem Hintergrund des Minderjährigenschutzes, aber auch unter Heranziehung des Schutzgedankens aus Art. 20 UN Kinderrechtskonvention bei Ungewissheit über den Tag der Geburt das spätest mögliche Geburtsdatum innerhalb des bekannten Geburtsjahres zugrunde gelegt werden. Die Praxis, das fiktive Geburtsjahr auf den 1. Januar zu legen, ist vor diesem Hintergrund kinderrechtswidrig. Ein fiktiv festgesetztes Geburtsdatum muss immer auf den 31. Dezember des bekannten/geschätzten Geburtsjahres fallen. (BVerwG 9 C 156.83)

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Rechtsfolgen bei Weigerung

Die Verweigerung einer medizinischen Untersuchung im Rahmen von § 42f SGB VIII darf nicht automatisch zur Annahme der Volljährigkeit und der Beendigung der Maßnahme führen. Die Entscheidung des Jugendamtes ist eine Ermessensentscheidung, die berücksichtigen muss, dass die Norm in erster Linie dem Minderjährigenschutz dient. Die notwendige Mitwirkungsbereitschaft der jungen Menschen herzustellen und sie von einem Verfahren zu überzeugen, das letztendlich ihrem Wohl dienen soll, ist zudem primäre sozialpädagogische Aufgabe. Zentral sind daher die angemessene Beteiligung der jungen Menschen am Verfahren und die rechtmäßige Erfüllung der Aufklärungspflichten des Jugendamtes. Die Verweigerung untauglicher oder unzulässiger Methoden – etwa der Genitaluntersuchung – zur Alterseinschätzung, darf ohnehin keine negativen Rechtsfolgen nach sich ziehen.

Rechtsmittel

Rechtsschutz kann nur gegen den ablehnenden Bescheid der vorläufigen Inobhutnahme bzw. gegen einen Bescheid, der die Aufhebung einer verfügten Inobhutnahme anordnet, erlangt werden. Gegen die Beendigung der (vorläufigen) Inobhutnahme wegen einer Volljährigkeitsschätzung kann, falls das Landesrecht ein entsprechendes Verfahren vorsieht, ein Widerspruch, innerhalb eines Monats ab Bekanntgabe des Bescheids schriftlich, elektronisch oder persönlich beim jeweiligen Jugendamt erhoben werden (§ 70 VwGO). Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, muss innerhalb eines Monats ab Zustellung des Widerspruchsbescheids bei dem zuständigen Verwaltungsgericht Klage erhoben werden.

Damit der junge Mensch während des Rechtsmittelverfahrens weiter in der Jugendhilfe bleiben darf, muss zudem ein Antrag im einstweiligen Verfahren gestellt werden (§ 123 VwGO). Dabei muss die besondere Dringlichkeit verdeutlich werden. Unklarheiten über eine Antragsberechtigung sollten nicht davon abhalten, gerichtlichen Rechtschutz einzuholen, da im Zweifel das Gericht darauf hinwirken muss, dass die Anträge sachdienlich gestellt werden (§ 86 VwGO) bzw. sie im Sinne des Klagebegehrens umzudeuten (§ 88 VwGO). Der junge Mensch kann ab Vollendung des 15. Lebensjahres auch selbst rechtlich wirksam gegen die Versagung, Beendigung oder Aufhebung der (vorläufigen) Inobhutnahme vorgehen (§ 36 SGB I, § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO).

Kostenerstattung: Im Zweifel für die Minderjährigkeit

Bei einer Leistungsgewährung ist das Handeln des Jugendamtes auch dann rechtmäßig, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der junge Mensch zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war, wenn das Jugendamt

die Entscheidung über die Leistungsgewährung auf der Grundlage der ihm [Jugendamt] im Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden, erreichbaren Informationen mit der ihm objektiv abzuverlangenden, von ihm auch in eigenen Angelegenheiten aufgewendeten Sorgfalt trifft.

(BVerwG 5 C 24/05)

Das Bundesverwaltungsgericht hat damit klargestellt, dass der Minderjährigenschutz und damit der Grundsatz „im Zweifel für die Minderjährigkeit“ zu berücksichtigen ist.

Zuständigkeiten und Bindewirkung

Die Frage der Minderjährigkeit ist in der Regel in unterschiedlichen Verfahren bei den jeweiligen Behörden lediglich die Voraussetzung für daraus folgende Maßnahmen (DIJuF-Rechtsgutachten DRG-1047). Sie bildet selten eine eigene Entscheidung in Form eines eigenen Verwaltungsaktes. So spielt die Minderjährigkeit im aufenthaltsrechtlichen Verfahren insbesondere im Rahmen des erkennungsdienstlichen Verfahrens eine Rolle (§ 49 AufenthG). Die hier erfolgte Einschätzung ist aber weder für Jugendamt noch Familiengericht bindend. (VGH Bayern 12 CE 14.1833, OVG Berlin-Brandenburg 6 S 51.11)

Das Jugendamt seinerseits hat die Voraussetzungen der (vorläufigen/regulären) Inobhutnahme zu prüfen (§ 42f SGB VIII) (VG Münster K 1325/01.). Hierfür nimmt es Personen, die wahrscheinlich minderjährig sind, vorläufig in Obhut und klärt, ob die Voraussetzungen – also minderjährig/unbegleitet – für die Inobhutnahme vorliegen. Auch das in dieser Prüfung gefundene Ergebnis entscheidet nur über die Frage, ob die Person in Obhut genommen wird oder nicht, entfaltet aber keine Bindungswirkung gegenüber bspw. dem Familiengericht.

Das Familiengericht wiederum hat in eigener Zuständigkeit und nach eigenem Ermessen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anordnung einer Vormundschaft vorliegen (§1773 BGB, § 26 FamFG). Eine dieser Voraussetzungen ist ebenfalls die Minderjährigkeit bzw. die (beschränkte) Geschäftsfähigkeit der Person. Das Familiengericht kann hierfür die erforderlichen Beweismittel heranziehen, auch die Einschätzung des Jugendamtes (§§ 26 ff FamFG). Es darf die Alterseinschätzung des Jugendamtes im Rahmen des Aufnahmeverfahrens aber ebenfalls nicht einfach übernehmen.

Wenn sich die betroffenen Behörden im Sinne des Kindeswohls nicht untereinander verständigen, und kommt es in der Praxis regelmäßig zu drei oder sogar mehreren unterschiedlichen Ergebnissen im Hinblick auf das Alter des/der Betroffenen.

Förderung

Erstellt im Rahmen des Projektes „Gut ankommen – Fachkräfte qualifizieren“. Dieses Projekt wird aus Mittel aus dem Asyl-, Migrations- und Flüchtlingsfonds kofinanziert.

 

Material

Welche Verfahren existieren und sind zulässig? Welche rechtlichen Vorgaben und fachlichen Standards sind bei der Durchführung der Alterseinschätzung zu beachten? Wie kann in der Praxis gegen fehlerhafte Entscheidungen/Alterseinschätzungen vorgegangen werden?

Die Arbeitshilfe bietet hierzu Hinweise und Empfehlungen.

(Juli 2019, 36 Seiten)

Für alle die schnell etwas nachschlagen wollen oder anfangen sich einzuarbeiten: In unseren kurzen Basisinformationen erhalten Sie im handlichen Format, die wichtigsten Informationen zu den jeweiligen Themen sowie Hinweise zu weiterführenden Informationen.

#1 Junge Volljährige, #2 Alterseinschätzung, #3 Vormundschaft, #4 Betreuung durch Verwandte, #5 Umverteilung und Inobhutnahme, #6 Asylverfahren, #7 Clearingverfahren, #8 Pflegefamilien

Bei einer Bestellung erhalten Sie pro gewählter Stückzahl je eine der acht Basisinformationen.

(September 2019)

Ein breites Bündnis von 23 Verbänden und Organisationen lehnt Gesetzesänderungen zum verstärkten Einsatz medizinischer Methoden zur Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ab.

(März 2018)

In dieser Broschüre, die gemeinsam mit Jugendlichen erarbeitet wurde, werden die Rechte von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kindgerecht dargestellt. Mit welchen Behörden, Ämtern und Organisationen habe ich es zu tun? Was passiert alles in der ersten Zeit? Wer kümmert sich um mich? Und vor allem: Welche Rechte gibt es? Dies und vieles mehr erfahren junge Flüchtlinge in der Broschüre.

Dies ist die deutsche Version der Broschüre, eine Übersicht aller Sprachen finden Sie hier.

(Februar 2017)

Weiterführende Informationen