In §42 SGBVIII sind unbegleitete Minderjährige in Abs. 1 Nr. 3 als explizite Zielgruppe benannt, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden müssen(siehe auch hier zu Verteilung und Inobhutnahme und Jugendhilfe).
Die Durchführung der Inobhutnahmen ist für alle Kinder und Jugendlichen gleich: das Jugendamt muss in einer Einrichtung, bei einer geeigneten Person oder in einer sonstigen Wohnform unterbringen. Mit einer „sonstigen Wohnform“ ist nach Kommentar Wiesner, 2022 §42 Rn 23b eine sonstige betreute Wohnform im Sinne des SGBVIII gemeint.
Eine Aufnahmeeinrichtung oder eine Gemeinschaftsunterkunft ist eben genau keine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe und kann es auch nicht werden, da gesetzlich festgelegt ist, dass § 45 SGB VIII nicht für diese Einrichtungen gilt (§ 44 Abs. 3 AsylG). Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe brauchen ebendiese Betriebserlaubnis nach §45 SGBVIII.
Inobhutnahme als eine Schutzmaßnahme des Jugendamtes dient dazu, Kindeswohlgefährdung abzuwenden und unterliegt fachlich hohen Standards.
Für unbegleitete Minderjährige sind die §§42a-f vorgeschaltet, dieser setzt ein ordnungspolitisches Instrument um (Verteilung). Bei seiner Einführung im Jahr 2015 beabsichtigte der Gesetzgeber, zu bekräftigen, dass auch für diese ordnungspolitischen Entscheidungen (Verteilung, Altersfeststellung) das Primat der Kinder und Jugendhilfe gilt und ihre Zuständigkeit an erster Stelle steht. Neben dieser Besonderheit verweist der §42a Abs1 Satz 3 auf den §42SGBVIII und stellt damit klar, dass die Standards in der vorläufigen Inobhutnahme sich nicht unterscheiden. Die sich an die Inobhutnahme anschließenden Hilfen zur Erziehung richten sich rein nach dem individuellen Bedarf des Einzelnen
Unbegleitete Minderjährige haben die gleichen Rechte wie alle anderen Kinder und Jugendlichen und sind zwingend im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe unterzubringen. Während gerade sie als vulnerable Gruppe auf den umfangreichen Leistungskatalog des SGB VIII angewiesen sind, sind derzeit akute Einschränkungen ihrer Rechte zu beobachten. Das Kindeswohl ist für sie nicht mehr gewährleistet.
Die Wartezeiten für die Erstgespräche im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme liegen in Ballungsgebieten aktuell bei bis zu 12 Monaten. Davor verbleiben junge Menschen über Monate in Ausnahme-Strukturen. Sie haben in dieser Zeit nur eine rechtliche Notvertretung, jugendhilferechtliche Bedarfe werden nicht geprüft, und es findet nur eine rudimentäre Betreuung statt.
Auch über die Phase des Ankommens hinaus wird eine angemessene, das Kindeswohl berücksichtigende Versorgung, Betreuung und Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen derzeit an vielen Orten Deutschlands nicht mehr gewährleistet (s. unteren Abschnitt). Derweil verschärfen sich Probleme rund um die Alterseinschätzung: Aufgrund fehlender Standards findet diese unter immer fragwürdigeren Rahmenbedingungen statt (so berichtete und beispielsweise eine Teilnehmende bei einer Austauschveranstaltung zur Alterseinschätzung für Jugendamtsmitarbeitende von der Praxis das Alter mehrerer junger Menschen innerhalb von einer 15-minütigen Befragung festzusetzen), während ausreichender Rechtsschutz den jungen Menschen nach wie vor nicht zur Verfügung steht. Der Zugang zum Jugendhilfesystem bleibt ihnen so in vielen Fällen verwehrt, und gesetzlich vorgesehene Hilfen für junge Volljährige werden unzureichend geprüft.
Hinzu kommt eine völlige Überlastung des Vormundschaftssystem, dass eine angemessen Vertretung verhindert und der Abbau von essentiellen Unterstützungs-und Beratungsstrukturen.
Während die aktuelle Situation bereits dramatisch genug ist, äußern sich unterschiedliche politische Akteure mit immer extremeren Forderungen nach immer weitergehenden Rechtseinschränkungen junger geflüchteter Menschen. So fiel etwa der niedersächsische Städtetag im Oktober mit der Forderung auf, die verpflichtende Inobhutnahme über 14-Jährige unbegleiteter Minderjähriger gesetzlich aufzuheben, während die sächsische Landesregierung forderte, dass bundesweit über 16-jährige unbegleitete Minderjährige in Gemeinschaftsunterkünften und nicht in Strukturen der Jugendhilfe unterzubringen seien. Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann sprach offen von rechtswidrigen Pushbacks unbegleiter Minderjähriger an der innerdeutschen Grenzen und der sächsische Minderpräsident Kretschmer erklärte in völliger Verkennung der rechtlichen und politischen Realitäten unbegleitete Minderjährige zu den Schuldigen der Bildungsmisere. Die dargestellten Positionen sind dabei nur besonders markante Belege eines für die Rechte junger geflüchteter Menschen immer bedrohlicher werdenden Diskurses.
Viele Bundesländer reagierten auf den massiven Einrichtungs- und Personalmangel mit Absenkung der im SGB VIII festgelegten Standards, die wir hier dokumentieren. Teilweise werden Kinder und Jugendliche in Gemeinschaftsunterkünften und Turnhallen untergebracht, ohne angemessene Betreuung und ein Mindestmaß an Privatsphäre. Diese Diskriminierung der jungen geflüchteten Menschen ist unvereinbar mit ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus der UN-KRK und dem Grundgesetz, sie liefert zudem eine Blaupause, auch in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe Standards herabzusetzen.
Wir haben eine Tabelle erstellt, in der die Erlasse zusammengefasst sind und nach einzelnen Regelungsbereichen zusammengestellt. Ihr findet die Tabelle hier.
Solltet ihr Kenntniss über weitere Absenkungen haben, dann lasst sie uns gerne zukommen!
- Baden-Württemberg, Schreiben zur Notfallunterbringung
- Baden-Württemberg, Schreiben zu Unterbringungsformen
- Bayern
- Berlin vom 15.8.22-30.8.23
- Brückenangebote Berlin 21.3.23-20.3.25
- Brandenburg 16.11.2023-31.12.2025
- Bremen
- Hamburg
- Hessen
- Mecklenburg Vorpommern
- Niedersachsen 18.10.2022-17.10.2024
- Nordrhein-Westfalen
- Rheinland-Pfalz 25.11.22-31.12.23
- Saarland
- Sachsen 1.10.23-31.12.25, Aktualisierung vom 22.2.2024
- Sachsen Anhalt 23.11.22
- Schleswig- Holstein 23.11.22
- Thüringen 22.9.22
Diese Themenseite entstand im Rahmen des Projektes:
“Kindgerechtes Ankommen sicherstellen! – Stärkung des Ankunfts-, Unterstützungs- und Integrationssystems unbegleiteter Minderjähriger”, kofinanziert durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU.