Das OVG Berlin-Brandenburg, welches die alleinige Zuständigkeit bei Visumsverfahren hat, hat der Praxis des Auswärtigen Amtes, den Nachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF) zu verweigern, in einem weiteren Fall eine Absage erteilt. Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. April 2018 müsse beachtet werden. Bisher wird das Urteil durch die Bundesregierung nicht umgesetzt.
In einem Verfahren des „vorläufigen Rechtsschutzes“ hat das Gericht die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, der minderjährige Schwester eines in Deutschland lebenden ehemaligen umF gemeinsam mit ihrer Mutter ein Visum zur Einreise auszustellen (OVG Berlin – Brandenburg; 19.12.2018 – 3 S 98.18). Dabei hat das Gericht die Notwendigkeit einer europarechtskonformen Auslegung des deutschen Aufenthaltsrechts im Sinne des EuGH-Urteils vom 12. April 2018 festgestellt:
Hier ist der Mutter der Antragstellerin ein Visum nach § 36 AufenthG Abs.1 zwar nur mit Gültigkeit bis zum 31. Dezember 2018, bis zur Volljährigkeit ihres als Flüchtling anerkannten Sohnes A., erteilt worden. Mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. April 2018 (EUGH Aktenzeichen C55016 C-550/16), wonach ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 anzusehen ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 […], spricht aber Überwiegendes dafür, dass die Mutter der Antragstellerin nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet trotz zwischenzeitlichen Eintritts der Volljährigkeit ihres Sohnes A. gegenüber der Beigeladenen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 1 AufenthG haben wird. Der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit des zunächst noch minderjährigen Flüchtlings würde seiner praktischen Wirksamkeit (zu diesem Gesichtspunkt vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 […]) beraubt, wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt zumindest von einer gewissen Dauer anschließen würde [….].
(OVG Berlin – Brandenburg; 19.12.2018 – 3 S 98.18)
Ähnlich wurde bereits in einem anderen Verfahren entschieden (OVG Berlin-Brandenburg, 04.09.2018 – 3 S 47.18, 3 M 52.18).
Zudem bestätigt das Gericht seine Rechtsprechung zum Nachzug minderjähriger Geschwister, wonach mit Blick auf höherrangiges Recht und Familienschutz (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 24 Abs. 2 und Abs. 3 Europäische Grundrechte Charta) im Einzelfall auf die Sicherung des Lebensunterhaltes verzichtet werden kann und das dem nachzugsberechtigten Elternteil im Rahmen des Elternnachzugs nach § 36 Abs. 1 AufenthG erteilte Visum ausreichende Grundlage für den Kindernachzug nach § 32 AufenthG sein kann (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, 22.12.2016 – 3 S 98.16).
Ob das Urteil auf Fälle aus Ihrer Praxis anwendbar ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Mit Fragen hierzu können Sie sich gerne an unsere Einzefallberatung wenden.