Das Bundesverwaltungsgericht hat sich am 23.04.2020 an den Gerichtshof der europäischen Union gewandt und um Klärung gebeten, ob und inwieweit die jetzige deutsche Rechtspraxis zum Eltern-Kind und Kind-Eltern Nachzug mit EU Recht vereinbar ist. Der BumF hat einen kurzen Überblick und Hintergründe zu dem sogenannten „Vorlageverfahren“ mit rechtlicher Einordnung und Hinweisen für die Praxis erstellt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich am 23.04.2020 an den Gerichtshof der europäischen Union gewandt und um Klärung gebeten, ob und in wie die jetzige deutsche Rechtspraxis zum Eltern-Kind und Kind-Eltern Nachzug mit EU Recht vereinbar ist.
Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Kind minderjährigen sein muss, um einen europarechtlichen Anspruch auf Nachzug zu haben. Die EuGH Entscheidung vom 12.April 2018 legt als Zeitpunkt die Asylantragstellung fest. Unabhängig vom tatsächlichen Inhalt der vom Bundesverwaltungsgericht an den EuGH gerichteten Fragen, bedeutet dies zunächst erstmal: Der Zustand der fehlenden Rechtssicherheit besteht weiter fort und zwar zeitlich unbegrenzt. Es ist unklar, wann der EuGH sich mit den Vorlagefragen befasst und diese beantwortet. Solange das Verfahren vor dem EuGH nicht abgeschlossen ist, ist nicht mit einer Abkehr von der aktuellen deutschen rechtlichen Praxis zu rechnen, die für einen Anspruch auf Elternnachzug auf die Minderjährigkeit zum faktischen Zeitpunkt der Visumserteilung abstellt.
Daher wird es weiter eine Einzelfallentscheidung bleiben, ob ein Nachzugsantrag mit anschließender Klage gestellt wird oder nicht.
Am 12. April 2018 hat der EuGH in einem niederländischen Fall entschieden, dass ein/e unbegleiteter Minderjährige/r, der/die während des Asylverfahrens volljährig wird, sein/ihr Recht auf Elternnachzug behält, wenn er/sie im Asylverfahren den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen bekommt. Dabei ist der Antrag auf Elternnachzug innerhalb von drei Monaten nach rechtskräftiger Entscheidung über die Flüchtlingsanerkennung zu stellen.
Damit ist das Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Asylantragstellung plus der später festgestellt Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ausschlaggebend für einen Anspruch auf Nachzug. Dies gilt unabhängig davon, wann die tatsächliche „Feststellung der Flüchtlingseigenschaft“ erfolgt.
Die aktuelle rechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland zum Eltern-Kind und Kind-Elternnachzug verweigert einen Nachzug bei Volljährigkeit des Kindes, selbst wenn das Kind zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war und das Ergebnis des Asylverfahrens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist. Ein Antrag auf Nachzug kann dabei grundsätzlich immer erst gestellt werden, wenn eine endgültige Entscheidung zum Asylverfahren vorliegt.
Eltern – Kind Nachzug und Volljährigkeit
Das deutsche Recht verweigert einen Nachzug von Eltern zu ihrem Kind, wenn das Kind vor dem Antrag auf Kindernachzug volljährig wird. Gemäß deutscher Rechtspraxis muss die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen.
Kind – Eltern Nachzug und Volljährigkeit
Das deutsche Recht verweigert einen Nachzug von Kind zu Eltern, wenn das Kind vor dem Antrag auf Elternnachzug volljährig wird. Gemäß deutscher Rechtspraxis muss die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen.
Der EuGH legt verbindlich das Recht der europäischen Union aus. Demnach wäre die rechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland ein Verstoß gegen das Recht der europäischen Union. Die Folge wäre: Ein Anspruch auf Eltern –Kind und Kind-Eltern Nachzug bestünde immer dann, wenn zum Zeitpunkt der Asylantragstellung das Kind minderjährig ist, unabhängig davon wann über den Antrag der hier lebenden Antragstellenden (Kind oder Eltern) entschieden wird.
Die Bundesrepublik Deutschland hält jedoch das Urteil des EuGH vom 12. April 2018 nicht für Deutschland anwendbar und verweigert eine Änderung seiner Rechtspraxis. Es wird dabei angeführt, dass die niederländische Ursprungskonstellation über die entschieden wurde, nicht mit der deutschen Rechtspraxis vergleichbar sei. Denn das niederländische Recht sieht einen eigenen Aufenthaltstitel aufgrund der Elternschaft auch nach Volljährigkeit vor. Dies ist im deutschen Recht nicht so.
Im deutschen Recht endet mit Volljährigkeit der Aufenthaltstitel der Eltern; die Eltern müssen nun einen eigenen Aufenthaltsgrund unabhängig von ihrem Kind angeben.
Mit Bekanntwerden des EuGH Urteils vom 12. April 2018 wurden eine Vielzahl von Klageverfahren eingeleitet. Da bei Verweigerung eines Nachzugs immer auf Visumsvergabe durch die jeweilige deutsche Auslandsvertretung geklagt wird, ist immer das Verwaltungsgericht Berlin zuständig, denn: Hier sitzt das Auswärtige Amt, dass für die deutschen Auslandsvertretungen zuständige Ministerium.
Eltern – Kind Nachzug und Volljährigkeit
Das Verwaltungsgericht Berlin ging von einer Anwendbarkeit des EuGH Urteils auf das deutsche Recht aus und verurteilte in einem Fall die deutsche Auslandsvertretung zum Erteilen der Visa für die Eltern. In dem zu entscheidenden Fall, waren die Kinder während des laufenden Nachzugsverfahrens volljährig geworden.
Kind – Eltern Nachzug und Volljährigkeit
Das Verwaltungsgericht Berlin wurde auch in einem Fall des Kindernachzugs angerufen. Zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Vaters, war das Kind minderjährig, als der Antrag Kindernachzug gestellt wurde, war das Kind volljährig. Auch in diesen Verfahren wurde das Auswärtige Amt mit Verweis auf das EuGH Urteil vom 12. April 2018 zum Erteilen eines Visums – in diesem Fall für das inzwischen volljährige Kind – verurteilt.
Das Auswärtige Amt wandte sich daraufhin direkt an das Bundesverwaltungsgericht zur Klärung der grundsätzlichen Rechtsfrage, ob das EuGH Urteil vom 12.April 2018 auf die deutsche Rechtspraxis anzuwenden ist (in eine sogenannte „Sprungrevision“).
Denn: Das Bundesverwaltungsgericht hatte in Grundsatzentscheidungen 2013 zu Elternnachzug (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 BVerwG 10 C 9.12) und 2008 zu Kindernachzug (BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32/07 –, BVerwGE 131, 370-383) die Rechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland bis wann ein Nachzugsanspruch besteht, entsprechend vorgegeben. Die Anwendung des EuGH Urteils ist somit eine Abkehr der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
Da der Beschluss noch nicht in Gänze online zur Verfügung steht, wird sich auf die Pressemitteilung vom 23.April 2020 bezogen, abrufbar unter: https://www.bverwg.de/pm/2020/17
Damit das Bundesverwaltungsgericht entscheiden kann, ob die deutsche Rechtspraxis geändert werden muss, wird der EuGH gebeten zu klären: Welche Verpflichtungen ergeben sich aus der Familienzusammenführungsrichtlinie der EU (Richtlinie 2003/86/EG). Dabei nutzt das Bundesverwaltungsgericht die Gelegenheit und stellt umfassende Fragen zur aktuellen Rechtspraxis in Deutschland und zu den vom Auswärtigen Amt in den Verfahren vorgebrachten Argumenten.
Bezogen auf die deutsche Rechtspraxis, soll der EuGH folgende Punkte klären:
- Darf Deutschland beim Elternnachzug zu anerkannten Flüchtlingen die Bedingung stellen, dass die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Einreise noch besteht? (Frage 1a)
- Unter faktischer Berücksichtigung des niederländischen Rechts, wonach Eltern einen Anspruch auf Aufenthaltstitel über die Minderjährigkeit hinaus haben: Ist die deutsche Rechtspraxis, die den Aufenthaltstitel der Eltern bis zur Volljährigkeit des Kindes befristet, mit europäischen Recht vereinbar? (Frage 1a)
Wenn Deutschland grundsätzlich das Recht haben sollte, die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Einreise zu verlangen:
- Darf Deutschland einen Elternnachzug ablehnen, wenn das Kind im laufenden Visumsverfahren volljährig wird? (Frage 1b).
Wenn Deutschland seine Rechtspraxis dahingehend ändern muss, dass ein Elternnachzug zu anerkannten Flüchtlingen auch nach Erreichen der Volljährigkeit besteht:
- Welche Art und Umfang von „familiärer Bindung“ muss zwischen dem*der jungen Volljährigen und den Eltern bestehen? (Frage 2)
- Reicht die Abstammung zu den Eltern aus, oder muss ein tatsächliches Familienleben stattfinden? (Frage 2 a)
Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf:
- Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind? (Frage 2b)
- Ist eine positive Prognose zur Wiederaufnahme eines tatsächlichen Familienlebens in Deutschland Voraussetzung für einen erfolgreichen Elternnachzug? (Frage 2c)
Wenn es ernst wird: Der BumF-Rechtshilfefonds unterstützt junge Geflüchtete, ihre Rechte durchzusetzen. Helfen Sie jetzt mit.
SpendenUnabhängig vom tatsächlichen Inhalt der vom Bundesverwaltungsgericht an den EuGH gerichteten Fragen, bedeutet dies zunächst erstmal:
- Der Zustand der fehlenden Rechtssicherheit besteht weiter fort und zwar zeitlich unbegrenzt. Es ist unklar, wann der EuGH sich mit den Vorlagefragen befasst und diese beantwortet.
- Solange das Verfahren vor dem EuGH nicht abgeschlossen ist, ist nicht mit einer Abkehr von der aktuellen deutschen rechtlichen Praxis zu rechnen, die für einen Anspruch auf Elternnachzug auf die Minderjährigkeit zum faktischen Zeitpunkt der Visumserteilung abstellt.
- Dabei sind nicht nur der Elternnachzug, sondern auch die Fälle des Kindernachzug mit umfasst, bei denen das im Ausland lebende Kind während des laufenden Asylverfahrens der Eltern volljährig wird. Auch hier ist nicht von einer Abkehr der deutschen Rechtspraxis zu rechnen, wonach das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung zum Familiennachzug minderjährig sein muss.
- Auch wenn der EuGH eine grundsätzlich die Anwendbarkeit von EU Recht feststellt und damit die deutsche Rechtspraxis entsprechend geändert werden muss: Wie und unter welche Fristvoraussetzungen dann in Deutschland einen Elternnachzug oder Kindernachzug möglich ist, entscheidet die deutsche Gerichtsbarkeit. Das bedeutet: Nicht jedes Verfahren führt automatisch zum Erfolg. In Fällen, in denen Fristen nach dem allgemeinen deutschen Verwaltungsrecht nicht eingehalten worden sind, kann ein Nachzug weiter abgelehnt werden. (siehe dazu https://b-umf.de/src/wp-content/uploads/2019/07/2018_10_02_hinweise-zum-eugh-urteil-zum-elternnachzug-aktualisiert.pdf)
Was mache ich denn jetzt?
Es bleibt weiter eine Einzelfallentscheidung, ob ein Antrag auf Elternnachzug gestellt wird. Bei der Abwägung sollten dabei folgende Punkte berücksichtigt werden:
- Liegen alle anderen Voraussetzungen zum Elternnachzug vor? (unanfechtbare Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft) Wurde der Antrag auf Elternnachzug innerhalb einer kurzen Zeit nach unanfechtbarer Flüchtlingsanerkennung gestellt? Bzw. ist nachweisbar, dass sich umgehend um einen Termin bei der Auslandsvertretung bemüht wurde?
- Es ist aktuell davon auszugehen, dass der Antrag entweder abgelehnt wird oder es einfach keine Entscheidung gibt. Daher ist ein Antrag nur sinnvoll, wenn auch gegen eine (fehlende) Entscheidung vorgegangen werden soll.
- Es ist ein Verfahren von ungewisser Dauer – möglicherweise mehrere Jahre und mit ungewissem Ausgang. Dies stellt für alle Beteiligten eine starke zeitlich nicht absehbare psychische Belastung dar. Halten dies alle Beteiligen durch? Ist dies offen kommuniziert?
Wird gerichtlich gegen eine (fehlende) Entscheidung vorgegangen, entstehen Kosten. Diese Kosten sind in Teilen von verschiedenen Fonds- auch dem BumF Rechtshilfefond – übernehmbar. Dennoch wird ein Teil der Kosten häufig von den Beteiligten zu tragen sein.