Die Ergebnisse der für das Jahr 2023 durchgeführten Online-Umfrage unter Fachkräften zur Situation der durch sie begleiteten jungen geflüchteten Menschen sind nun öffentlich.
Die Umfrage 2023 bestätigt, dass die Unterbringungs- und Versorgungssituation junger Geflüchteter starke Defizite aufweist. Angesichts der durch die knapp 700 befragten Fachkräfte beobachteten zunehmenden Gewalt- und Rassismuserfahrungen der jungen Menschen sowie ihres signifikant erschwerten Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung verdeutlicht die Umfrage dringenden politischen Handlungsbedarf!
Die Ergebnisse dieser Umfrage basieren auf der Auswertung von 688 Fragebögen. Der größte Teil der Befragten arbeitet mit unbegleiteten Minderjährigen und jungen Volljährigen, etwa ein Drittel der Befragten arbeitet auch oder nur mit begleiteten jungen Geflüchteten. Erneut stellen Betreuer*innen in der Jugendhilfe den größten Anteil der Befragten dar, gefolgt von Berater*innen sowie zu gleichen Teilen ASD-Mitarbeitende oder Personen in Leitungsfunktionen freier und öffentlicher Träger, Vormund*innen, Ehrenamtliche und zu geringen Anteilen Personen aus dem Gesundheitsbereich, dem Bildungsbereich und aus Pflegefamilien. Die zahlenmäßig größte Gruppe sind hierbei Fachkräfte mit langjähriger Berufserfahrung; die derzeit vielen neuen Fachkräfte und Quereinsteiger*innen machen etwa ein Viertel der Befragten aus. Der größte Bedarf nach Qualifizierung wird im sich ständig verändernden Asyl- und Aufenthaltsrecht als auch in den Bereichen „Gesundheit und Trauma“, Umgang mit Rassismus und intersektionaler Diskriminierung sowie „Bildung und Arbeit“ gesehen.
Wie bereits im Vorjahr werden von fast allen Teilnehmenden die Trennung von der Familie (95%), aufenthaltsrechtliche Unsicherheit (93%) sowie die psychischen Folgen der Flucht und der Situation im Herkunftsland (91%) am häufigsten als belastende Faktoren für die jungen Menschen genannt. Aber auch Angst vor der Zukunft (83%) sowie Rassismuserfahrungen (63%) werden oft angegeben.
Alarmierend ist die Zunahme der berichteten Gewalterfahrungen: Sehr viele junge Menschen berichten laut Fachkräften von Gewalterlebnissen. Fast 80% der Fachkräfte geben an, dass fast alle oder die Mehrheit der jungen Menschen über Gewalt im Heimatland berichten; für die Flucht nennen dies sogar 85%. Gewalterfahrungen in Deutschland werden immerhin noch von 25% der Fachkräfte für die Mehrheit oder fast alle jungen Menschen berichtet.
Die Umfrage macht insgesamt deutlich, dass junge geflüchtete Menschen nach oft sehr gefährlichen und langen Fluchtwegen in Deutschland auf ein unzureichendes und überlastetes Ankunftssystem treffen. Ungleichbehandlung findet sich in der abweichenden Unterbringung im Rahmen des SGB VIII, in der mangelhaften rechtlichen Vertretung durch viel zu spät eingesetzte oder überlastete Vormundschaften und der daraus resultierenden Verzögerungen im asyl-und aufenthaltsrechtlichen Bereich, in nach Schutzstatus hierarchisierten Chancen auf Familiennachzug sowie in entstehenden Nachteilen durch nichtzutreffende Alterseinschätzungen. Notversorgungsstrukturen, in denen die jungen Menschen an vielen Orten viel zu lange untergebracht sind bergen Risiken für ihre Perspektivgestaltung: In einem Drittel der Fälle dauert es sehr viel länger als vorgesehen, bis im Rahmen der Inobhutnahme Erstgespräche und Alterseinschätzungen stattfinden. In dieser Zeit sind die jungen Menschen in Strukturen untergebracht, die nicht auf längere Dauer ausgelegt sind (keine Beschulung, mangelhafte rechtliche Vertretung, keine Bedarfsprüfung).
Auch Gelingensfaktoren werden durch die Befragten beschrieben. Durch gute Betreuung von Anfang an werden dagegen nachfolgende Jugendhilfemaßnahmen erfolgreicher und damit Perspektiven und Teilhabe junger Menschen gestärkt.
Die Umfrage gibt Einblicke in alle die jungen Menschen und ihr Unterstützungssystem betreffende Verfahrensabläufe und zeigt auf, welche politischen und sozialarbeiterischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um eine individuell bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
- Junge Geflüchtete brauchen eine gute Perspektive und die Verwirklichung ihrer Rechte anstatt einem andauernden Wartezustand, in dem ihre grundlegenden Rechte nicht beachtet werden.
- Der Bundesfachverband fordert die politischen Entscheidungsgremien auf, hier zu einer verantwortungsvollen Kinder- und Jugendpolitik zurückzukehren.
Der Bundesfachverband umF schlussfolgert auf Basis der Ergebnisse der aktuellen Umfrage:
- Es besteht ein hoher Bedarf an Konzepten und Finanzierung für die nachhaltige Qualifizierung von Fachkräften und Quereinsteiger*innen, die die Möglichkeit bieten, Strukturen der stationären Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig zu stützen.
- Angebote der Beratung im Asylverfahren und der Jugendhilfe wie im Bereich der therapeutischen Versorgung, die in der letzten Zeit massive Kürzungen erfahren haben, bedürfen gerade auch vor dem Hintergrund der Zunahme von Gewalterfahrungen der jungen Menschen – vielmehr eines Ausbaus der Strukturen.
- Dringend bedarf es, unter anderem in den Bereichen der Alterseinschätzung und der jugendhilferechtlichen Verteilung, eines wirksamen Rechtsschutzes der jungen Menschen. Es muss gewährleistet sein, dass bei eingelegten Rechtsmitteln ein Verbleib im Minderjährigensystem zum Schutz aufrecht erhalten bleibt.
- Die Bedarfe von Jungen Volljährigen dürfen im Kontext überlasteter Strukturen nicht vernachlässigt werden! Es gibt umfangreiche Forschung zu erfolgreichen Übergängen aus der Kinder- und Jugendhilfe in die Selbständigkeit, dieses Wissen muss unbedingt wieder genutzt und umgesetzt werden. Der Bundesfachverband fordert Jugendämter auf, junge Menschen zu ihrem Recht auf Antragsstellung zu informieren und sie zu unterstützen.
- Die Anschlussunterbringung in Gemeinschaftsunterkünften oder Obdachlosenunterkünften ist mit allen Mitteln zu verhindern, hierdurch werden häufig im Rahmen der Jugendhilfe bereits erreichte Ziele (Schulabschluss, Berufsausbildung, Teilhabe) gefährdet.
- Der Bekämpfung von Rassismus als gesellschaftspolitischer Querschnittsaufgabe sowohl im Rahmen der Sozialen Arbeit als auch im institutionellen und behördlichen Kontext muss eine große Relevanz beigemessen werden.
- Der Bundesfachverband umF fordert die Umsetzung der im Koalitionsvertrag 2021 benannten Ziele, die Gleichstellung der Chancen im Familiennachzug für subsidiär Geschützte, die Umsetzung des Geschwisternachzuges sowie die Beschleunigung der Verfahren.
- Der Bundesfachverband fordert Bund, Länder und Kommunen auf, Familien schnellstmöglich in Wohnungen unterzubringen und entsprechend flankierende Unterstützungs- und Beratungsangebote zu fördern.
- Der Bundesfachverband umF fordert die Kultusminister*innen in Bund und Ländern dazu auf, die notwendigen Mittel aufzuwenden, um ein Recht auf Bildung diskriminierungsfrei allen Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.
Die Studie und der Anhang zur Studie sowie die Pressemitteilung können hier heruntergeladen werden: