Gut zu wissen: Fragen zur Familienzusammenführung aus der Türkei

Begüm Bilgiler hat für verschiedene Flüchtlingsunterstützungsorganisationen, wie Médecins Sans Frontières, Mercy Corps und Refugee Rights Turkey, gearbeitet. Hierbei hat sie sich auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Türkei spezialisiert. Im Interview beantwortet sie Fragen zur Familienzusammenführung aus der Türkei.

Wie bewerten Sie die Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei im Allgemeinen?

Bei der Frage muss ich ein bisschen ausholen. Die Türkei war immer ein Transitland für Migrant*innen, die bessere und sichere Lebensbedingungen in der EU suchten. Über die letzten Jahre, besonders nach dem arabischen Frühling, haben die Zahlen derjenigen, die es über die sogenannte Balkanroute oder über die Meeresroute versuchen drastisch zugenommen. Laut dem aktuellen Bericht des UNHCR ist die Türkei das Land, das in den letzten fünf Jahren zahlenmäßig am meisten registrierte Flüchtlinge beherbergt hat. Diese Gastfreundschaft muss hervorgehoben werden. Die größte Gruppe sind Millionen syrische Flüchtlinge dazu kommen  Migrant*innen vieler anderer Nationalitäten. In der Türkei haben bis heute Nicht-EU Migrant*innen, die Asyl suchen, dort keine Chance auf einen Flüchtlingsstatus (Anmerkung: Vgl. Turkey:  Law No. 6458 of 2013 on Foreigners and International Protection). Lediglich für die syrischen Flüchtlinge gibt es so etwas wie einen temporären Schutz, der jedoch jederzeit wieder aufgehoben werden kann. Angesichts der Veränderung in der internationalen Politik können Migrant*innen von der Politik verschiedener Parteien als politisches Werkzeug verwendet werden, wie es während des Türkei-EU-Abkommens im Jahr 2016 Realität wurde.

Lediglich für die syrischen Flüchtlinge gibt es so etwas wie einen temporären Schutz, der jedoch jederzeit wieder aufgehoben werden kann.

Also gibt es keinen wirklichen Flüchtlingsschutz in der Türkei?

Paradoxerweise können nur Menschen, die aus der EU in die Türkei kommen, dort einen Flüchtlingsstatus bekommen. Alle anderen Nationalitäten können beim Staatlichen Amt für Migrationsmanagement internationalen Schutz oder Resettlement in andere Länder beantragen. Der Resettlementprozess kann aber Jahre dauern und nur für eine kleine Anzahl von Antragssteller*innen werden die Anträge genehmigt. Nur etwa 1% der Flüchtlinge auf der Welt sind auf diese Weise umgesiedelt worden. Und viele Migrant*innen aus aller Welt sehen keine Zukunft für sich in der Türkei, weil sie sich in ihren Rechten beschnitten sehen. Ich würde sagen, dass es weder einen sicheren Status gibt für diejenigen, die in der Türkei einen internationalen Schutz noch für diejenigen die einen temporären Schutz beantragt haben.

Lass uns auf den Familienzusammenführungsprozess zu sprechen kommen. Wie funktioniert er und welche Unterstützungsleistungen kann beispielsweise die International Organization for Migration (IOM) bieten?

Nach türkischem Recht müssen unbegleitete Kinder unter 18 Jahren in staatlichen Unterkünften bleiben. In diesen Unterkünften gibt es Sozialarbeiter*innen, die möglicherweise Kontakt aufnehmen, um das Familienzusammenführungsverfahren zu verfolgen. Normalerweise wird erwartet, dass die Familien in Deutschland das Verfahren beantragen. Es gibt einige NGOs, die Rechtsbeistand und Unterstützung leisten können, wie die IOM. Das in der Türkei im Jahr 2016 gestartete Family Assistance Programm (FAP) arbeitet daran die Familienzusammenführung von vulnerablen Familien zu ermöglichen. Das Programm ist für Menschen, die bereits eine Familie mit Schutzstatus, wie zum Beispiel in Deutschland, haben. Mit dem Programm können syrische und irakische Staatsangehörige ein Familienzusammenführungs-Visa beantragen. In der Türkei befindet sich das Servicecenter der IOM in Istanbul. Familienangehörige werden in Bezug auf das Visantragsverfahren in Zusammenarbeit mit dem deutschen Konsulat unterstützt. Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen werden in der Regel die Anträge seitens der Familien in Deutschland eingereicht. Das Personal der IOM begleitet unbegleitete minderjährige in der Regel auch von der Türkei nach Deutschland auf einem Flug.

Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen werden in der Regel die Anträge seitens der Familien in Deutschland eingereicht. Das Personal der IOM begleitet unbegleitete minderjährige in der Regel auch von der Türkei nach Deutschland auf einem Flug.

Wie viel Zeit vergeht durchschnittlich zwischen der online Antragstellung und der Vorsprache beim Konsulat? Und wie viel Zeit vergeht noch zwischen der Vorsprache und einer Entscheidung?

Die Wartezeit auf einen Termin beträgt in der Regel zwei Wochen. Für Angehörige subsidiär Schutzberechtigter ist die Wartezeit länger, da vorab ein Interview mit der IOM geführt werden muss. In welcher Zeit der Antrag beschieden werden kann, hängt jedoch von dem Workload der jeweiligen Visa-Stelle ab, wie schnell die zuständige Ausländerbehörde der Visaerteilung zustimmt und natürlich ob bei der Vorsprache die Antragsunterlagen komplett waren.

Wie funktioniert die Zahlung der Gebühren, wenn keine Kreditkarte vorliegt?

In Istanbul kann die Gebühr für den Visaantrag nur in bar und in Euro bezahlt werden. Häufig wird dies durch Angehörige und Unterstützer*innen übernommen.

Gibt es Zuwendung für die Kinder und Jugendliche, die bereits im Verfahren für eine Familienzusammenführung sind? Was sind die größten Probleme?

Es gibt keine Spezialfürsorge aber normalerweise gibt es eine große Erwartung von diesen Kindern und Jugendlichen, da viele in der Regel von einer sofortigen Zusammenführung ausgehen und viele wollen sofort ihre Familien wiedersehen. Aus diesem Grund wollen einige dann nicht mehr so sehr die türkische Sprache lernen, oder in ihre jeweilige Schule gehen. Aber der Prozess kann manchmal ein Jahr oder viel länger dauern. Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen als auch die Familie versteht, dass ein Antrag nicht gleichzeitig heißt, dass es eine positive Bestätigung gibt. Daher ist eine gute und sensible Kommunikation von Seitens aller Involvierten wichtig, von der Familie, bis zu den Unterstützer*innen und den jeweiligen zuständigen staatlichen Institutionen. Die Interessensvertreter*innen sollten die Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der betroffenen Kinder treffen.

Wegen der Überarbeitung können auch Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen häufig nicht die vollständige nötige Unterstützung leisten. Deswegen sind NGOs notwendig, die versuchen diese Engpässe aufzufangen. Es gibt jedoch keine Organisation, die auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge spezialisiert ist.

Welche Institutionen vor Ort gibt es (türkische, deutsche, internationale), die eine Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen organisieren können?

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind in staatlichen Unterkünften untergebracht, nachdem sie identifiziert und registriert worden sind. Diese haben den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Jedoch, aufgrund der hohen Anzahl von UMF sind einige Unterkünfte überfüllt. Es gibt dort auch häufig fehlende Dolmetscher*innen. Wegen der Überarbeitung können auch Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen häufig nicht die vollständige nötige Unterstützung leisten. Deswegen sind NGOs notwendig, die versuchen diese Engpässe aufzufangen. Es gibt jedoch keine Organisation, die auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge spezialisiert ist. Aber es gibt ein paar NGOs, die Hilfe anbieten, je nachdem welches Programm gerade gefördert wird, da viele Angebote nur projektbasiert sind. Im Großen und Ganzen kann man aber sagen dass IOM, der UNHCR, Sığınmacılar ve Göçmenlerle Dayanışma Derneği (SGDD-ASAM) und Refugee Rights Turkey (RRT) und Sevgi ve Kardeşlik Vakfı, die immer wieder wechselnde Unterstützungsprogramme haben. Psychologischen Support für Folteropfer bietet Türkiye İnsan Hakları Vakfı (TIHV) an und für LGBTI+ gibt es das Sosyal Politika Cinsiyet Kimliği ve Cinsel Yönelim Çalışmaları Derneği (SPoD).

Woran scheitern Visaerteilungen?

Das ist eine sehr generelle Frage und lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Ich kann daher nur von meinen Erlebnissen berichten. Es gibt Fälle, in denen die Eltern aus verschiedenen Gründen schlichtweg nicht die Fürsorge übernehmen können. Manchmal ist ein Elternteil tot oder nicht auffindbar. Manchmal ist es aber auch nicht einfach die staatlichen Institutionen der Herkunftsländer zu erreichen, oder es gibt niemanden, der wichtige Dokumente bekommen kann. Außerdem kann man häufig die Bürokratie in den Konflikt- und Kriegsgebieten nicht mit dem bürokratischen System in Deutschland vergleichen. Oder es kann aus verschiedenen Gründen ein vorhandenes Dokument nicht einfach nach Deutschland geliefert werden.

Welche Kriterien für Härtefälle greifen in der Regel und welche – entgegen gängiger Vorstellungen – nicht?

Ein Familiennachzug gemäß Aufenthaltsgesetz § 36 II ist nur möglich, wenn eine sogenannte familienbezogene, außergewöhnliche Härte vorliegt. Das Schicksal als Flüchtling alleine reicht nach den gesetzlichen Vorgaben zur Erfüllung eben dieser Voraussetzung regelmäßig nicht aus. Außerdem wird der Familiennachzug nur ermöglicht, wenn ausreichender Wohnraum und die Sicherung des Lebensunterhalts nachgewiesen werden können. Nach Antragstellung kann gemeinsam mit der Ausländerbehörde in Deutschland eine Prüfung unternommen werden, ob etwa ein Ausnahmefall möglich ist. (Anmerkung: Weitere Informationen zur Nachzugsgrundlage gibt es auf der Webseite der Deutschen Vertretungen in der Türkei)

Wenn das Kind vulnerabel ist, also Opfer von sexueller Gewalt oder folterüberlebend ist, dann ist es wirklich wichtig das zu erklären, damit es den nötigen Support bekommt.

Welche Punkte sind besonders kritisch beim Nachzugsverfahren aus der Türkei nach Deutschland?

Wie vorher schon gesagt manchmal ist es schwierig, die Ausweise der Kinder zu organisieren und die benötigten Papiere, um die jeweilige Familienzugehörigkeit nachzuweisen. Wenn einer der Eltern nicht in Deutschland ist, also z. B. immer noch in Syrien, vermisst oder tot ist, dann braucht es beispielsweise einen Bittbrief um die Situation zu erklären und offizielle Dokumente, die zeigen, dass die Person auch wirklich tot oder vermisst ist und nicht die Sorge für die Kinder übernehmen kann. Zusätzlich braucht es zum Beispiel Berichte von Unterkünften, Psycholog*innen oder anderen NGOs. Wenn das Kind vulnerabel ist, also Opfer von sexueller Gewalt oder folterüberlebend ist, dann ist es wirklich wichtig das zu erklären, damit es den nötigen Support bekommt.

 

Interviewführung und Übersetzung: Mathias Fiedler

Material

Den Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erreichen vermehrt Hinweise, dass das Auswärtige Amt Anträge auf Familiennachzug, in denen während des Verfahrens die Volljährigkeit eingetreten ist, mit dem Argument ablehnt, das Urteil des EuGH vom 12. April 2018 sei in Deutschland nicht anwendbar, da eine Vergleichbarkeit mit der niederländischen Rechtslage fehle und werde daher in Deutschland nicht umgesetzt.

Im Folgenden hat der Bundesfachverband umF die Hinweise zur Umsetzung Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. April 2018 an der vom Auswärtigen Amt vertretene Rechtsauffassung ausgerichtet.

(Oktober 2018)

Im zweiten Halbjahr 2020 wird die Bundesrepublik Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. 42 Menschen- und Kinderrechtsorganisationen fordern in einem offenen Brief an die Bundesregierung, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Reform des Gemeinsamen europäischen Asylsystem garantiert werden.