
Seit 2018 arbeitet Miriam Wollmer beim BBZ im Familiennachzugs-Projekt. Ein Großteil ihrer Arbeit besteht aus der Einzelfallberatung. Zusätzlich schult das Team andere Beratungsstellen, ehrenamtliche Unterstützer:innen und Betreuer:innen.
„Wir haben das Beratungsstellen-Netzwerk Familiennachzug Berlin-Brandenburg gegründet und betreuen es auch. Alle sechs bis acht Wochen laden wir zu einem Netzwerktreffen ein. Die Hauptarbeit bleibt aber die direkte Beratung: In einer offenen Sprechstunde können Ratsuchende dienstags ohne Termin kommen. Zusätzlich gibt es Termine nach Vereinbarung sowie eine Telefonsprechstunde am Donnerstag.“
Die meisten Ratsuchenden stammen aus Syrien, insbesondere unbegleitete Minderjährige. Das BBZ-Familiennachzug-Team besteht aktuell aus vier Personen, von denen zwei muttersprachlich Arabisch sprechen. „Wenn sie nicht da sind oder andere Sprachen benötigt werden, organisieren wir Sprachmittlung – besonders für Dari, Farsi und Paschtu.“
„Unsere offene Sprechstunde ist immer sehr voll. Wir schaffen meistens gar nicht alle Personen zu beraten, die kommen, weil es einfach einen riesengroßen Beratungsbedarf gibt und sehr, sehr viel Unsicherheit, vor allem aber auch unter den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Da ist eine Beratung viel umfangreicher, weil es eben vor allem auch darum geht, Ängste zu besprechen und darüber zu sprechen, was die Jugendlichen für Druck spüren und was für eine Verantwortung auf ihnen lastet.“
Die meisten Ratsuchenden im BBZ sind minderjährige Syrer*innen mit subsidiärem Schutz. Subsidiär Schutzberechtigte sind Menschen, denen in ihrem Herkunftsland Gefahr droht aus Gründen, die nicht von der (insoweit lückenhaften) Genfer Flüchtlingskonvention erfasst werden. Ihnen wird jedoch aufgrund anderer menschenrechtlicher Konventionen, insbesondere der EMRK, Schutz gewährt. Dies betrifft Personen, die in ihrem Heimatland Folter, die Todesstrafe oder eine Lebensgefahr durch bewaffnete Konflikte fürchten müssen.Personen mit subsidiärem Schutz können aktuell ihre Eltern nur nach Deutschland holen, solange sie noch minderjährig sind.
Bis November 2024 gab es die Möglichkeit, einen Sondertermin zu erhalten, wenn jemand bald volljährig wurde. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Behörden wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und deutsche Botschaften begründen dies mit „Gleichbehandlung“ und verweisen auf Verwaltungsgerichtsurteile.
Ein offizieller Hinweis lautet: „Eltern von Referenzpersonen, die in Kürze volljährig werden, können nicht priorisiert werden, sofern die Minderjährigkeit der Referenzperson den einzigen humanitären Grund darstellt.“
Das bedeutet: Wer 16 oder 17 Jahre alt ist, hat kaum noch Chancen auf Familiennachzug
„Das ist eine extrem belastende Situation, weil die Zukunftsperspektive der Jugendlichen und ihrer Familien zerstört wird. Viele warten hier schon so lange. Erst auf eine Vormundschaft, dann auf den Abschluss des Asylverfahrens und den Aufenthaltstitel und dann auf den Termin für den Familiennachzug. Durch die langen Wartezeiten wird den Betroffenen sowieso schon der Boden unter den Füßen weggezogen. Und dann ändern sie von einem Tag auf den anderen die Regelungen zur Vergabe von Sonderterminen! Es ist so schwer, das den Personen zu übermitteln. Dafür gibt es eigentlich keine Worte! Es ist so ungerecht, es geht doch um die Familie! Es ist einfach das emotionalste, das wichtigste Thema für die meisten Personen mit Fluchterfahrung und es ist einfach super belastend.
Wenn alle Wege versperrt werden, sitzt man total ohnmächtig da und die Jugendlichen nehmen das mit nach Hause. Sie schlafen nachts nicht mehr gut, können sich nicht konzentrieren, sind natürlich total belastet, vor allem, weil die Familien, die im Ausland sitzen und auch die ganze Zeit darauf warten, dass sie endlich kommen können ja auch gar nicht mitbekommen, was hier für bürokratische Prozesse ablaufen und das überhaupt nicht verstehen können.
Es ist komplett unmenschlich. Das kann niemand nachvollziehen! Und dann lastet es auf den Jugendlichen hier den eigenen Familien zu erklären und ja, oft ist es halt leider dann auch so, dass die dann denken „Ah, du hast dich nicht richtig eingesetzt, Du hast nicht hart genug dafür gekämpft, dass es klappt“. Das führt zu einem enormen Schuldgefühl, das sie ihr Leben lang begleiten wird. Nur weil jemand 18 wird, bedeutet das nicht, dass er oder sie keine Familie mehr braucht oder plötzlich völlig selbstständig sein kann. Das ist völlig realitätsfern!“
Es heißt ja, dass es bei „schweren chronischen körperlichen oder psychischen Beschwerden“ oder wenn die minderjährige Person mit subsidiärem Schutz unter 14 sei doch die Möglichkeit der Vergabe von Sonderterminen gäbe. Wie nehmt ihr das in der Praxis wahr?
„Also in der Praxis sieht es auf jeden Fall nicht so aus. Erstens habe ich wirklich in ganz seltenen Fällen gesehen, dass Vorzugstermine aufgrund von medizinischen Notfällen gegeben werden. Und bei unter 14-Jährigen sehe ich aktuell auch nicht, dass die Terminvergabe priorisiert wird.“
Nach dem Beginn der israelischen Luftangriffe auf Beirut hat das IOM-Zentrum seit dem 1. Oktober 2024 geschlossen. Im Moment können die syrischen Familien also ihre Visaanträge in Beirut nirgends abgeben. Was hatte die Schließung der IOM-Antragstelle in Beirut für Auswirkungen auf eure Arbeit?
„Das ist einfach eine Katastrophe für die Personen, die auf ihren Familiennachzug aus Syrien warten, weil Beirut für diese Personen die Hauptauslandsvertretung war. Erstens, weil die Familien relativ problemlos über die Grenze in den Libanon reisen konnten. Außerdem war die Botschaft in Beirut die mit den größten Kapazitäten Anträge anzunehmen und dass das wegfällt, bedeutet einfach für alle, dass sich die ohnehin schon unzumutbar langen Wartezeiten noch mehr verlängern, weil jetzt natürlich auf andere Auslandsvertretungen ausgewichen werden muss. Bevor Beirut zugemacht hat, haben die Menschen regulär schon ungefähr zwei Jahre auf einen Termin gewartet. Wie sich die Schließung jetzt auswirkt, ist einfach noch unklar.“
„Die Informationen, die wir von den von der Botschaft, aber auch von der IOM bekommen, sind oft widersprüchlich. Ein Beispiel ist der Umgang mit denjenigen, die schon auf der Warteliste für die Terminvergabe der Botschaft in Beirut waren. Aktuell ist der Stand, dass die Warteliste aus Beirut weiter besteht für diejenigen, die sich dort schon für einen Termin registriert hatten. Alle hoffen, dass die Botschaft wieder geöffnet wird und dass dann die Termine vergeben werden, auf die die Personen ja schon zwei Jahre gewartet haben.
Im November kam vom IOM FAP Zentrum in Beirut per Mail an uns die Info, dass die Person, die in Beirut einen Termin beantragt haben, sich einfach bei den anderen Auslandsvertretungen melden könnten und dann einen Termin bekommen würden. Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass die Personen bei anderen Auslandsvertretungen neue Termine beantragen müssen und dadurch ist kostbare Zeit verloren gegangen.
Was ist jetzt mit diesen Personen, die schon zwei Jahre auf einen Termin warten und jetzt einfach ins Ungewisse weiter warten müssen? Die Wartezeiten aus Beirut werden nicht angerechnet, wenn man sich woanders registriert. Und natürlich registrieren sich die meisten Familien jetzt auch zusätzlich bei einer anderen Botschaft, weil unklar ist, wann die Botschaft in Beirut wieder öffnet. Die meisten sind jetzt auf Amman ausgewichen. Wie in Amman die Wartezeiten aussehen werden, kann aktuell niemand sagen.
Wie geht man damit um als Beraterin in der Praxis mit diesen widersprüchlichen Informationen um? Du bist jetzt seit sechs/ sieben Jahren dabei. Hat sich das verschlimmert?
„Das hat sich jetzt gerade in den letzten Monaten schlagartig verschlimmert. Es ist super frustrierend. In der Beratung sitze ich oft da und weiß gar, was ich sagen soll. Oft müssen wir einfach abwarten! Und die Personen haben dann keine Anlaufstelle an die sie sich wenden können, um ihre Fragen zu stellen. Wir werden ihnen auch keine Antworten geben können – es ist einfach total belastend für alle.“
„Es geht um die Familie und das ist für die meisten das wichtigste. Es beschäftigt sie Tag und Nacht und ist unglaublich belastend dazu weder klare Informationen noch Notfalllösungen vom Auswärtigen Amt zu bekommen.“
2021 stand folgendes im Koalitionsvertrag der SPD, den Grünen und der FDP:
„Familienzusammenführung muss im Sinne der Integration und der Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft gestaltet werden. Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen. Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen.“
Am Freitag, den 31.01.2025 hat die CDU/CSU das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz in den Bundestag eingebracht. Durch das Gesetz sollte unter anderem der Familiennachzug für Personen mit subsidiärem Schutz beendet werden. CDU, FDP, BSW und AfD stimmten für das Gesetz. Das Gesetz scheiterte knapp aufgrund der Gegenstimmen der Grünen, der Linken und der SPD.

„Es ist einfach eine riesen Enttäuschung, dass die Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag nicht umgesetzt wurden. Es ist so als hätte es ihn nie gegeben. Der Koalitionsvertrag hat uns am Anfang große Hoffnungen gemacht und wir haben auch in der Beratung den Personen gesagt „Ah ja, bald kommt wahrscheinlich eine Änderung, vor allem auch was den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte angeht.“
Dass das schon nicht gekommen ist, ist einfach eine Riesenenttäuschung! Genauso beim Thema Geschwisternachzug!
Und dass es jetzt aber noch schlimmer wird, kann ich gar nicht fassen. Ich kann gar nicht begreifen, dass die CDU-Menschen, dieses Vorhaben jetzt durchsetzen wollen. Friedrich Merz hat sicher noch nie mit Personen gesprochen, die betroffen sind von Familientrennung aufgrund von Flucht. Er hat keinen Bezug dazu, was es für die Menschen bedeutet! Es ist einfach unmenschlich. Und wir müssen das dann den Personen in der Beratung vermitteln.
Ich fordere Menschlichkeit. Die Politiker:innen müssen endlich die unterschiedlichen Realitäten von Menschen anerkennen und mit der rassistischen Politik aufzuhören!“
Redaktion und Fotos: Livia Giuliani
Dieses verschriftlichte Interview entstand im Rahmen des Projektes „Kindeswohlgerechtes Ankommen sicherstellen“
