Nach § 42 Abs. 2 SGB VIII hat das Jugendamt während der Inobhutnahme die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Vorrangiges Ziel ist eine pädagogische Bedarfsermittlung zur Feststellung des Hilfebedarfs und die Klärung der sozialen, gesundheitlichen und psychosozialen Situation sowie der Perspektiven des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings.
Die Dauer des Clearingverfahrens hängt vom jeweiligen Hilfebedarf und der spezifischen Situation des Jugendlichen ab. Allerdings ist der Prozess der sozialpädagogischen und evtl. psychologischen Diagnostik nicht immer zeitgleich mit Beendigung der Inobhutnahme abgeschlossen, sondern er wird als eine Aufgabe im Rahmen der Hilfe zur Erziehung fortgesetzt.
Federführend ist das jeweilige Jugendamt, unter Beteiligung der betreuenden Einrichtung, des Vormunds und im Bedarfsfall von anderen Experten (zum Beispiel Therapeuten). Die Klärung des pädagogischen Bedarfs ist Aufgabe des Sozialen Dienstes, der den Vormund als Leistungsberechtigten im Rahmen seines Wunsch- und Wahlrechts berät. Zwei Methoden stehen dabei im Vordergrund:
- Einschätzungs- und Erstgespräch durch das Jugendamt
- Einschätzungen und Stellungnahmen der pädagogischen Fachkräfte aus der Jugendhilfeeinrichtung
Das Einschätzungs- und Erstgespräch dient der Feststellung des persönlichen Hintergrundes und wird in der Regel durch die fallführende Fachkraft des Jugendamtes durchgeführt. Das Gespräch kann folgende Themenbereiche umfassen:
- Familiäre Verhältnisse (Verbleib der Eltern, letzter Kontakt, Geschwister und weitere Angehörige)
- Bildungshintergrund (Schulbesuch, Lernerfahrung)
- Ausbildungs- und Berufswunsch
- Gesundheitsentwicklung
- Mögliche Zielvorstellungen der Eltern und anderer Angehöriger
- Situation der Familie im Herkunftsland (Wohnverhältnisse, finanzielle Situation, Erziehungsmuster, Freizeitverhalten, religiöses Umfeld)
- Fluchtgründe, Einreisemotiv und Fluchtweg
- Bisherige Aufenthaltsorte
- Zielort in oder außerhalb Deutschlands
- Aufenthaltsort von Verwandten und anderen Bezugspersonen
Für das Gespräch wird eine vertrauensbildende Atmosphäre und Umgebung geschaffen. Hierzu zählt insbesondere die Einbindung einer muttersprachlichen Dolmetscherin oder eines Dolmetschers. Die Beteiligten vereinbaren Verschwiegenheit. Hierbei müssen dem Minderjährigen seine/ihre persönliche Situation während des Clearingverfahrens sowie Hilfsmöglichkeiten altersentsprechend erklärt werden. Die Gesprächsführung erfordert ein hohes Maß an Geduld und Einfühlungsvermögen, und es kann erforderlich sein, das Gespräch in mehreren Einheiten durchzuführen, um eine langsame Öffnung zu ermöglichen.
Es ist möglich, dass geflüchtete Minderjährige zunächst wichtige Angaben verschweigen oder falsche Informationen weitergeben, z.B.
- Wenn Misstrauen gegenüber dem/der Gesprächspartner/in besteht.
- Wenn sie die Rolle ihres/ihrer Gesprächspartner/in nicht einschätzen können
- Wenn sie noch unter Einfluss von Falschinformationen durch Schlepper stehen oder sich durch diese bedroht fühlen
- Wenn sie von Vertrauenspersonen dazu angehalten werden
- Wenn sie Angst haben, Angehörige durch ihre Angaben zu gefährden
- Wenn sie Angst haben, durch ihr Erzählen an traumatische Ereignisse erinnert zu werden
Die Einschätzung und Stellungnahme der pädagogischen Fachkraft der Jugendhilfeeinrichtung basiert auf den Beobachtungen im Alltag und den geführten Gesprächen und sollte folgende Inhalte abdecken:
- Familiärer und soziokultureller Hintergrund
- Gesundheitlicher, psychischer und geistiger Entwicklungsstand
- Sozialverhalten
- Fähigkeiten und Ressourcen
- Schulische Voraussetzungen und Lernverhalten
- Alltagspraktische Selbstständigkeit
- Traumatische Belastungen
Die Informationen aus dem Anamnesegespräch sowie die Stellungnahme der pädagogischen Fachkraft der Clearingstelle sollten als Grundlagen für die Hilfeplanung (§36 SGB VIII) dienen.
Ein wesentlicher Bestandteil des Clearingverfahrens ist es das aufenthaltsrechtliche Clearingverfahren.
Zweck des aufenthaltsrechtlichen Clearings ist zu entscheiden, wie und wo der weitere Aufenthalt des Jugendlichen ermöglicht werden kann. Zunächst gilt es zu prüfen, ob eine Familienzusammenführung innerhalb des Aufnahmelandes, in einem Drittland oder im Herkunftsland unter Berücksichtigung des Kindeswohls möglich ist. Besteht diese Möglichkeit nicht, oder bestehen Zweifel an der Gewährleistung des Kindeswohls im Rahmen einer Familienzusammenführung, ist zu prüfen, ob ein Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingeleitet wird oder ob lediglich ein Abschiebeschutz (§60 Abs. 2-7 AufenthG) bzw. eine Duldung (§60a AufenthG) bei der Ausländerbehörde beantragt wird. Berücksichtigt werden hierbei auch die langfristigen Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung durch Bildung und Integration. Die Entscheidung, welche dieser verschiedenen aufenthaltsrechtlichen Schritte eingeleitet werden, ist unter vorrangiger Beachtung des Kindeswohls sorgfältig abzuwägen. Der junge Mensch ist hierbei altersentsprechend zu beteiligen.
Das Clearing beleuchtet die Fluchtursachen, -bedingungen und -wege und wie diese glaubhaft gemacht werden können. Zu berücksichtigen ist, dass sich Ängste und traumatische Erfahrungen bei Jugendlichen anders äußern als bei Erwachsenen und dass Jugendliche zum Teil nur ungenügend über die Verhältnisse in ihrem Heimatland Bescheid wissen. Öffnungsprozesse und Vertrauensbildung brauchen oft Zeit, weshalb Asylanträge zum Teil auch erst mit erheblicher Verzögerung gestellt werden können.
Die Inobhutnahme endet mit der Gewährung des Antrags auf Hilfe zur Erziehung (§27 SGB VIII), der von dem/der Vormund/in beim Jugendamt gestellt wird, und der damit verbundenen Unterbringung in einer Anschlussversorgung, z.B. einer Jugendwohngruppe. Der individuelle Bedarf sowie die Eignung entscheidet darüber, welche Hilfeform gewährt wird. Neben den gesetzlich ausdrücklich normierten Hilfeformen kann das Jugendamt eigene Hilfen einsetzen, wenn der konkrete Bedarf dies erfordert. Geflüchtete Minderjährige sind deutschen Kindern und Jugendlichen dabei gleichgestellt. So spielt bei der Leistungsgewährung alleine der konkrete Bedarf eine Rolle. Im Rahmen der stationären Unterbringung wird der notwendige Unterhalt sowie eine umfängliche Gesundheitsversorgung sichergestellt.
Zu den gesetzlich normierten Hilfeformen gehören u.a.:
- Heimerziehung (§34 SGB VIII)
Heime, Jugendwohngemeinschaften und betreutes Einzelwohnen sind die häufigsten Unterbringungsformen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Einrichtungen können eine Vollzeit – oder Teilbetreuung umfassen. Es gibt hierzu eine Vielzahl von pädagogischen Konzepten. Einige Einrichtungen sind nur für geflüchtete Minderjährige gedacht, in anderen Einrichtungen werden sie zusammen mit deutschen Jugendlichen betreut.
- Unterbringung in einer Pflegefamilie (§33 SGB VIII)
Pflegefamilien müssen Voraussetzungen erfüllen: sie müssen etwa Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen haben und sich qualifiziert haben. Das Jugendamt entscheidet unter Beteiligung des Minderjährigen darüber, ob in einer Familie untergebracht wird. Oft handelt es sich dabei um Verwandte: Diese haben ebenso wie andere Pflegefamilien Anspruch auf Unterstützung durch das Jugendamt.
- Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII)
Diese Hilfeform ist durch eine besonders intensive Betreuung des jungen Menschen gekennzeichnet und kommt z.B. bei schweren Erkrankungen in Frage. Sie kann ambulant und stationär erfolgen oder auch ergänzend zu anderen Hilfeformen gewährt werden.
- Gemeinsame Wohnformen für Mütter / Väter und Kinder (§19 SGB VIII)
Alleinerziehende Eltern mit einem Kind unter 6 Jahren sollen in einer geeigneten Wohnform gefördert werden, wenn sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung Förderung benötigen. Dies schließt auch Minderjährige ein, die mit einem Kind nach Deutschland kommen.
Bei Bedarf müssen die vorher genannt Formen der Hilfe zur Erziehung auch über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt werden (§41 SGB VIII). Zwar besteht keine Antragspflicht im SGB VIII, aus Transparenzgründen bietet es sich aber an, hier frühzeitig einen entsprechenden Antrag zu stellen. Mehr Informationen finden Sie dazu auf unserer Themenseite „Junge Volljährige“.
Abonnieren Sie unseren Newsletter und bleiben Sie über die wichtigsten Themen informiert!
jetzt anmeldenGrundlage des pädagogischen Handlungsbedarfs ist die Hilfeplanung. Am Hilfeplanverfahren sind der/die Jugendliche, der/die fallzuständige Mitarbeiter/in im Sozialen Dienst des Jugendamtes, die Bezugsbetreuung aus der Jugendhilfeeinrichtung, der Vormund, ggf. ein/eine Dolmetscher/in und nach Bedarf weitere Personen (z.B. Angehörige oder Therapeuten) beteiligt . Im Rahmen des Hilfeplangespräches, das in der Regel im halbjährlichen Rhythmus erfolgt, werden mit allen Beteiligten die Ziele der Hilfe reflektiert und ggf. neu festgelegt. Hierbei sind die Sichtweisen und der Wille des jungen Menschen je nach Reifegrad anzuhören und zu berücksichtigen
Handlungsleitend sind bei dem Gespräch in der Praxis folgende W-Fragen:
- Warum ist die Hilfe notwendig?
- Welche Ziele werden gesetzt?
- Wie wird die Zielerreichung festgestellt?
- Welche Hilfeform ist geeignet?
- Durch wen wird die Hilfe geleistet?
- Wie lange wird diese Hilfe voraussichtlich zu leisten sein?
- Wie erfolgt die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten?
Die handlungsorientierte SMART-Methode hat sich in der Praxis als hilfreich erwiesen und berücksichtigt die folgenden Kriterien bei der Formulierung von Zielen:
S = Spezifisch. Die genannten Ziele sind eindeutig und konkret, Verhaltens- oder Handlungsweisen sind benannt und einer Person zugeordnet. Ziele sind positiv formuliert.
M = messbar. Die Zielerreichung lässt sich beobachten, messen und überprüfen.
A = akzeptabel. Ziele sind mit den Bedürfnissen der Beteiligten kompatibel bzw. im Konsens erstellt.
R = realistisch: Das Ziel ist unter den gegebenen finanziellen, personellen und rechtlichen Rahmenbedingungen erreichbar.
T = terminiert. Ein Termin für die voraussichtliche Zielerreichung ist angegeben, sowie der Zeitrahmen in dem das Ziel zumindest teilweise erreicht oder überprüft wird.
Aus den vereinbarten Handlungszielen werden Handlungsschritte abgeleitet. Wichtig ist hierbei eine prozessorientierte Sichtweise. Ziele müssen oft neu überdacht und Hilfeformen angepasst werden.
Erstellt im Rahmen des Projektes „Gut ankommen – Fachkräfte qualifizieren“. Dieses Projekt wird aus Mittel aus dem Asyl-, Migrations- und Flüchtlingsfonds kofinanziert.